Tisa-Preis 2014
Antonia Low

 

In 2015, nur zwei Wochen vor der endgültigen Schließung der Zeche Auguste Victoria und damit ihrer Versetzung in den Zustand eines ungewissen Schlafs, unternahm die Künstlerin, Antonia Low, eine Serie von Abformungen des Zechenbodens. Auf Schacht 4, in 886 Meter Tiefe, wurde schichtweise Latex über vier Bereiche der Bodenoberfläche gezogen und somit eine Reihe von Abformungen produziert, die sowohl die menschlichen Spuren des Abbaus als auch die Zeichen geologischer Prozesse erfassen.

 

Die daraus resultierenden, skulpturalen Dokumente tragen Abdrucke von Schienen und von liegen gelassenen Unrats wie Plastiktüten, Ketten und Schrauben, ebenso wie organisch geformte Stalagmiten, die durch kumulativ kristallisierende Salzwassertropfen entstehen.

Tisa-Preis 2014

06. Preisträgerin

 

Antonia Low

1972 geboren in Liverpool

 

1996 – 2003 Freie Kunst, Kunstakademie Münster

 

2000 Kunstpreis, Förderverein der Kunstakademie Münster

Studienförderung, Studienstiftung des Bischöfl. Cusanuswerks

 

2001 – 2002 MA Fine Arts, Goldsmiths College, University of London

 

2002 AHRB Postgraduate Award, University of London

Kunstpreis, Fritz-Terfloth Stiftung

Meisterschülerin bei Ulrich Erben

 

2003 Förderpreis, Gesellschaft für Westfälische Kulturarbeit GWK

Atelierstipendium, First Base ACAVA London

 

2004 Reisestipendium, Kunststiftung NRW

 

2005 Stipendium, Künstlerhaus Schloß Plüschow

 

2008 Projektstipendium, Kunststiftung NRW

 

2010 Katalogstipendium, Gesellschaft für Westfälische Kulturarbeit GWK

 

2011 – 2013 PhD Programm, Dorothea-Erxleben-Programm HBK Braunschweig

 

2012 Stipendium, Breath Residency, CFCCA Manchester

 

2013 Kunstpreis, Kunstmuseum Bonn

 

2014 Stipendium, Irish Museum of Modern Art Dublin

 

2014 Kunstpreis, Tisa von der Schulenburg Stiftung

 

2015 Arbeitsstipendium, Kunstfonds

 

2016 Stipendium, Casa Baldi, Casa Baldi, German Academy of Rome

 

2017 Kulturaustauschstipendium, Berliner Senat für Kultur und Europa / ISCP New York

 

2018 Reisestipendium, Goethe Institut Hong Kong

Arbeitsstipendium, Berliner Senat für Kultur und Europa

 

Seit 2019 Professur für Intermediale Projekte, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart

 

2019 Atelierstipendium, IASPIS Schweden

 

 

Jury 2014

 

Dr. Hans-Jürgen Schwalm, Kunsthalle Recklinghausen

 

Stefan Wolter, Skulpturenmuseum Glaskasten Marl

 

Marion Taube, Kunsthistorikerin

 

Jörg Loskill, WAZ Essen

 

Dr. Rüdiger Fenne, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Tisa-Stiftung

Schwebezustand zwischen konkreter Sachlichkeit und völliger Unlesbarkeit

 

Die Fülle an Information, den die Gussformen über den Ort, in dem sie entstanden sind, einfingen, erscheint insgesamt zu komplex und willkürlich, um für das menschliche Auge Sinn zu ergeben. Lediglich mit dem Hinweis zum Entstehungsort und zur Entstehungszeit präsentiert, sind sie wie Reste archäologischer Funde oder forensische Zeugnisse, die es noch zu entschlüsseln gilt. In ihrem Schwebezustand zwischen konkreter Sachlichkeit und völliger Unlesbarkeit scheinen die Skulpturen auf rätselhafte Weise potenziell wichtige Antworten in sich zu tragen – wenn wir nur die Fragen hätten!

 

Wie der Titel suggeriert, sind Bodenmomente tatsächlich eine Arbeit über Zeit. Fast fotografisch, schnappschussartig, ist der Prozess, die physische Oberfläche des Streckenbodens, der „Sohle“ einzufangen – kurz bevor dieser jeglicher Betrachtung auf unabsehbare Zeit entzogen wurde. Im Gegensatz zu diesem steht die eigentliche Herstellung des Abgusses, bei der gemahlener, Millionen Jahre alter Naturstein und Weißglimmer mit beigemischt wurden. Auf diese Weise, wird die menschliche, gleichwohl die geologische Zeit komprimiert und zu einer einzigen visuellen Ebene vereinheitlicht. Hingegen könnte „Momente“ im Titel auch eine Anspielung auf die Idee eines Manövers sein, ein Schritt im Arbeitsablauf oder ein bestimmter Vorgang als Hinweis auf den Prozess von Transformation.

Projekt „Bodenmomente“ © 2016, Tisa von der Schulenburg-Stiftung
Ausstellung „Kunst und Kohle“ ©2018, Skulpturenmuseum Glaskasten Marl

An den Wänden des Skulpturenmuseum Glaskasten hängend, direkt über dem Stollen dessen Zeugnis sie sind, erfolgte eine Transformation der Bodenabgüsse von Arbeitsoberflächen zu kulturellen Artefakten. Dem sonst übersehenem Bereich der Zeche wird ein kultureller Wert angeeignet, Low schickt ihre Abgüsse auf eine ähnliche Reise des Mehrwerts – von dem verborgenen Innern der Erde zur Darstellung von menschlicher Zivilisation.

 

Unsere heutige Obsession mit dem Digitalen lässt uns leicht vergessen, dass ein Großteil des heutigen Wissens über unsere Vergangenheit auf die Aufzeichnung von Kunstwerken und anderen materiellen Spuren beruht und dies vermutlich ebenso der Fall sein wird in Bezug auf unsere eigene Epoche. Aus dieser Perspektive erscheint es plausibel, dass Lows Bodenmomente eines Tages als Karten genutzt werden könnten. Etwa für Forscher, die sich in die mit Grubenwasser gefüllten Strecken des Bergwerks Auguste Victoria vorwagten, oder als „Flaschenpost“ , hinterlegt in den zukünftigen Ruinen des Museums, mit einer Nachricht über das, was in der Tiefe unter ihr zurück gelassen wurde.

 

Text: Lisa Rosendahl