Leben

 

Gräfin Elisabeth Mary Caroline Veronika Margarethe von der Schulenburg hat fast das gesamte 20. Jahrhundert in allen seinen Facetten erlebt und kritisch über ihre ganz eigene Art der Kunst reflektiert. Als Gräfin geboren, zweimal geschieden (Hess und von Barner), entschloss sie sich 1950 aus voller Überzeugung Nonne zu werden. Die Kunst hat sie ihr Leben lang begleitet. Trotz aller Herausforderungen, die eine Frau gerade in dieser Zeit erlebte, sind ihre Werke Ausdruck von Kreativität und kritischem Geist – eine außergewöhnliche Frau und Künstlerin.

 

„Man kann aus seiner Haut nicht raus … Es geht nur um eins, mit jedem Wurf neu zu versuchen, ob es mir nicht gelingt, als Künstler besser zu verstehen, als Mensch besser zu werden. C’ést ça..“

Tisa von der Schulenburg wurde im Jahre 1903 als Tochter eines preußischen Generals geboren. Als adlige Offizierstochter verlebte sie eine behütete Kindheit zunächst in London, wo ihr Vater Militärattaché war, dann, nach seiner Versetzung zum Generalstab, in Berlin, zwischenzeitlich auch in Potsdam und Münster. Ihre Kindheitserinnerungen kreisten immer wieder um das Mecklenburger Schloss Tressow, wo sie mit ihrer Familie unvergessene Ferien erlebte:

 

„Der Wagen fuhr ganz leise, die Pferde griffen aus. Die Spannung war kaum zu ertragen. Bald würden wir das Haus sehen. / Durch eine Lichtung sah man es liegen, weiß, langgestreckt, von drei Seiten von Wald umgeben.“

Ihre Ausbildung erhielt sie zunächst von Privatlehrern, dann ab 1917 in Heiligengrabe, einer kaiserlich und preußisch orientierten Traditionsschule für adlige Töchter. Dort erlebte sie 1918 den Zusammenbruch des Kaiserreichs. Die Familie, vor allem ihr Vater, litt unter dem verlorenen Krieg: „Die Niederlage Deutschlands, das Ende der Monarchie, die Wirren im Innern, der Verlust des Vermögens, der Position, die Missachtung des Adels – das alles hatte ihn schwer getroffen.“ „Der Übergang in die bürgerliche Welt“ wurde in der Familie nicht geleistet. „Der Krieg ging gewissermaßen weiter.“

Tisa von der Schulenburg hatte vier Brüder, von denen Fritz-Dietlof ihr am nächsten stand. Im Gegensatz zu seinem Vater und seinen Brüdern, die 1933 die Machtergreifung Hitlers begrüßten, ging Fritz-Dietlof während der Kriegsjahre in den Widerstand und wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet. Der Widerstand gegen die Nazis und der Opfermut ihres Bruders haben Tisa tief geprägt.

 

“Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor namenlosem Elend zu bewahren. Ich weiß, daß ich dafür gehenkt werde, bereue es aber nicht, ich hoffe nur, daß ein anderer in einem glücklicheren Augenblick sie durchführen wird, um das Vaterland zu retten.”

 

Fritz-Dietlof von der Schulenburg

Ihre künstlerische Karriere begann zunächst beinah unbemerkt mit Scherenschnitten für ihren jüngsten Bruder, bis ihr Talent 1919 von Max Liebermann entdeckt wurde. Ihr Entschluss, Künstlerin zu werden, stieß sich zunächst an den konservativen Familientraditionen. 1926 begann sie ein Studium an der Berliner Kunstakademie. In Berlin lernte sie den jüdischen Bankier Hugo Simon kennen, in dessen Haus u. a. Brecht, Remarque, die beiden Zweigs, Heinrich Mann und Zuckmayer verkehrten, auch bildende Künstler wie Pechstein, Kokoschka und George Grosz, des weiteren die Schauspielerin Tilla Durieux, die Verleger S. Fischer, Rowohlt und die Ullsteinbrüder. Man unterhielt sich über Politik und glaubte fest an eine bessere Zukunft.

 

“Es war die Zeit der großen Utopia. Und das hat wohl den Goldenen Zwanziger Jahren diesen unvergleichlichen Schwung gegeben.”

 

Dort begegnete ihr auch der jüdische Unternehmer Fritz Hess, den sie 1928 heiratete.

Die Weltwirtschaftskrise 1929 traf nicht nur die Familie Hess, sondern konfrontierte Tisa von der Schulenburg mit Elend und Arbeitslosigkeit. Es entstanden Zeichnungen von wartenden Arbeitslosen. Der Brand des Reichstages wurde zum Auslöser ihrer Flucht nach England:

 

“Der Brand entzündete einen Sturm, der Europa, ja die Welt in Flammen setzen sollte. Es traf uns alle unvorbereitet. Über die Braunhemden hatten wir gelacht. Ja, wir alle hatten wie in einer Seifenblase gelebt.”

 

In England ermutigte Henry Moore sie zum Relief. 1936/37 kam sie mit Hilfe der Künstlergruppe „Artist’s International Association“ in Kontakt mit den streikenden Bergleuten im Kohlerevier von Durham. Dort gab sie Schnitzkurse und hielt Vorträge über Kunst. Dort fuhr sie auch zum ersten Mal in ein Bergwerk ein. Es entstanden viele Zeichnungen von Bergleuten.

 

“…mir war, als hätte ich nun eine Heimat, eine Aufgabe gefunden.”

1938 ließ sie sich von Hess scheiden. Als 1939 ihr Vater starb und im Beisein von Himmler, dem Führer der SS, beerdigt wurde, verweigerten ihr die Einreisebehörden die Rückkehr nach England. Man hielt sie für eine Nationalsozialistin. Sie heiratete ihren Jugendfreund C. U. von Barner und lebte während der Kriegsjahre auf dem mecklenburgischen Gut ihres Mannes.

 

“In diesen Jahren hatte sich alles verändert. Das Deutschland, das ich gekannt und geliebt hatte, war für immer versunken. Sechs Jahre hindurch hatte man Haß gesät. Die Saat war aufgegangen. Haß und Aggression waren an der Herrschaft.”

 

1945 floh sie vor den Russen in den Westen, wo sie als Journalistin arbeitete. Die zweite Ehe wurde geschieden. Es entstanden viele Zeichnungen von Flüchtlingen. Im Ruhrgebiet suchte sie erneut Kontakt zu Bergarbeitern.

 

“Die schwarze Tiefe zog mich mehr denn je an. Ich zeichnete und zeichnete. Mit Wucht brach das Zeichnen wieder durch. Tusche. Schwarz-weiß. Männer beim Gesteinbohren. Männer vor Ort.”

Als sie versuchte, 1948 nach England zurückzukehren, wurde ihr wieder die Einreise verweigert, diesmal mit dem Argument, sie sei eine Kommunistin.

 

“Ich war verzweifelt. Am Ende. Ich hatte alles auf eine Karte gesetzt: fort von Deutschland. Der Weg war versperrt. Ich war wie in einer Falle.”

 

Die Unerträglichkeit ihres bisherigen Lebens führte sie immer näher zu Gott:

 

“Ich kam aus dem Dunkel der eigenen Schuld und der Schuld meines Volkes.”

 

Sie konvertierte zum katholischen Glauben und trat 1950 als Schwester Paula in das Dorstener Ursulinenkloster ein.

Es entstanden eine Reihe von religiösen Kunstwerken, daneben aber, vor allem nach der Öffnung des Klosters nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, kehrte sie zu ihren Tuschezeichnungen zurück: immer wieder stellte sie Bergarbeiter dar.

 

“…die Solidarität mit den Bergleuten und Arbeitslosen ließen sie ihre Aufgabe und ihren Auftrag erkennen: Anteil zu nehmen und Anteil zu zeigen am Leidenszustand der Menschheit und mit ihren Mitteln und Möglichkeiten, durch Zeichnungen und Plastiken, gegen Gleichgültigkeit und Vergeßlichkeit der Menschen anzukämpfen.”

 

Anneliese Schröder

Am 16. September 1972 wird ihr durch den Bürgermeister Hans Lampen (mit Bürgermeisterkette) und Stadtdirektor Dr. Karl-Christian Zahn die Ehrenbürgerwürde verliehen.

 

Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt Dorsten wird eine Frau zur Ehrenbürgerin erhoben. Tisa von der Schulenburg wird für ihre Verdienste das Ehrenbürgerrecht verliehen und sie trägt sich in das Goldene Buch der Stadt ein.

Am 20. September 1984 begegnete Tisa von der Schulenburg anlässlich der Inbetriebnahme der Anschluss-Schachtanlage Haltern 1/2 der Zeche „General Blumenthal“ dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Fünf von Tisa von der Schulenburg für das neue Gebäude gestaltete Reliefs mit dem Titel „Bergleute“ wurden enthüllt.

Wegen der drohenden Schließung ihres Bergwerkes errichteten die Bergleute in Dorsten 1997 eine Mahnwache, um auf ihre Situation hinzuweisen. Tisa von der Schulenburg solidarisierte sich mit ihnen und nahm an der Mahnwache teil.

 

“Sie fuhr mit den Männern ein in die Tiefe, kroch zu ihnen ins Streb, stand mit ihnen im Wasser, atmete den stickigen Kohlenstaub im betäubenden Lärm der Presslufthämmer. Oft. Immer wieder. Sie kennt den Kohlenbergbau in England, in Indien, im Ruhrgebiet. Die dort miterlebten, miterlittenen Situationen, die den Menschen das Letzte abfordern, stellt sie seit jeher dar. Aus sozialem Engagement.”

 

Ruhrwort Dezember 1977

Bei der Mahnwache auf der Zeche „Fürst Leopold“ trifft Tisa von der Schulenburg am 1. Februar 1997 Ministerpräsident Johannes Rau. Mit der über Monate von den Bergleuten gehaltenen Mahnwache sollte ein Zeichen für die von der Schließung der Zeche „Fürst Leopold“ betroffenen Menschen gesetzt werden. Für den Ministerpräsidenten ist Tisa von der Schulenburg – von den Kumpeln schlicht Schwester Paula genannt – als ständige Begleiterin der Bergleute „die heilige Barbara des Reviers“.

Tisa von der Schulenburg erhält aus der Hand der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel, am 19. Juli 1994 in der Lohnhalle der Zeche „Fürst Leopold“ das Bundesverdienstkreuz für ihr Lebenswerk und für ihr ausgeprägtes soziales Engagement.

 

“Ich habe in meinem Leben mehr von den Bergleuten gelernt als diese von mir,”“

 

bedankt sich die Geehrte. Sie nimmt die hohe Auszeichnung für „ihre“ Bergleute entgegen, nachdem sie die Ehrung Jahre zuvor noch abgelehnt hat.

In ihrer reichen Zeit als Künstlerin entstanden zahlreiche Tusche-Zeichnungen und Reliefs zu den Juden-Pogromen während des Dritten Reiches, zu den Kriegen in Vietnam, Afrika und im Nahen Osten, zu den Verhungernden in Biafra und Äthiopien, zu den Ereignissen in Chile, zu den ausgestoßenen Lepra-Kranken, zur sozialen Not in den Ländern der Dritten Welt.

 

Durch Ausstellungen wurde Tisa von der Schulenburgs Werk einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Zahlreiche Persönlichkeiten kreuzten ihren Weg.

 

“Die Größe der Blätter liegt in ihrer Unverdaulichkeit. Sie sind die Verbildlichung dessen, was Menschen dem Menschen antun können. Homo homini lupus. Sie sind Illustration der Unduldsamkeit und Gewalttätigkeit, weltliche Gleichnisse biblischen Martyriums.”

 

Albert Schulze-Vellinghausen

 

Tisa von der Schulenburg / Schwester Paula starb am 8. Februar 2001 im Alter von 97 Jahren in Dorsten.